Die Verjagten (1921)
by Heinrich Mann
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Die Verjagten

 
[ 79 ]Seit gestern ist nun auch die sechzehnjährige Linda Barocci gestorben. Alle, die sie kannten, sagen, daß sie glücklich zu leben verdient hätte, denn sie war gut und tapfer, was sie schon lange vor ihrem letzten Unglück bewiesen hatte, draußen vor Porta Agnese bei ihrem Verwandten Nazzarri, der ihr nachstellte. Nazzarri Umberto hatte seine Gärtnerei gleich hinter dem Heiligtum Santa Agnese. Er war ein stattlicher Mann mit lebhafter Gesichtsfarbe. Die Linda, blond, weiß und sehr zierlich, fand ihr Heil, wenn die Laune ihn ankam, stets nur in ihrer Schnelligkeit. Denn der Garten ist groß und geht in das offene Feld über. Wenn der Nazzarri der Kleinen lästig fiel, trat manchmal seine Gattin dazwischen, die Frau Amelia, [ 80 ]oder besser gesagt, sie rief ihrem Gatten von der Tür her Namen zu, die keine Kosenamen waren; aber persönlich zur Stelle zu sein ward ihr schwer wegen des Gewichts ihres Körpers. Diese beleibte Person hatte ein gutes Herz, das die Linda die versuchte Untreue ihres Gatten nie entgelten ließ. Vielmehr bezeigte sie ihr das innigste Mitleid und warnte den Nazzarri vor allem Unglück, das seine böse Lust nicht verfehlen werde heraufzurufen. Er aber wollte nicht hören. Gereizt durch den Widerstand des Mädchens, hetzte er sie oft umher wie toll, und besonders zu der Stunde, wo auf die Campagna die Dämmerung herabsteigt. Dann sahen Nachbarinnen Linda dahin huschen über den Boden, klein und leicht wie eine Fledermaus, und irgendwo darin verschwinden. Denn die Erde hat dort versteckte Löcher, die zu den alten Katakomben hinabführen, und in ihnen findet [ 81 ]man schwer den, den man sucht, wenn auch zuweilen solche, die man nicht gesucht hat, und die das Licht scheuen. Der Nazzarri mußte draußen warten, bis es der Linda gefiel, zurückzukehren. Einmal, sagten sie, habe er achtundvierzig Stunden lang warten müssen. So verzweifelt war das Mädchen, daß es sich drunten verirrt hatte und halb verhungert hervorkam.

Dem konnte die gute Tante Amelia nicht länger zusehen. Sie und die Linda taten soviel und soviel, bis endlich der Nazzarri dem Mädchen zu gehen erlaubte. Sie suchte sich eine Stelle als Magd in Rom, er war aber dahinter, daß es bei strengen Leuten wäre und in einem Haus ohne Jugend. Die Frau Gräfin Marinotti hat ihren Palast in Via Argentina und bewohnt ihn allein mit ihrer Zofe und Haushälterin Bona Chichetti, die bei Jahren [ 82 ]ist wie sie selbst und eine Gehilfin braucht, und diese war die Linda. Sie erlangte die Zufriedenheit der beiden Alten, und so oft der Onkel Nazzarri sich einstellte — er stellte sich aber jede Woche zweimal ein mit seinen Gemüsen — ward ihm geantwortet, daß nichts Unrechtes zu merken sei an der Linda. Denn sie gehe nur aus, wenn ihr Dienst es verlange, niemals am Abend, und kein Mann komme ins Haus. Eines Tages aber sollten die guten Alten einen kommen sehen. Er war erst achtzehn und war ein Kohlenträger, Aldo Canta, von Montereale, Provinz Aquila, woher auch die Linda kam. So trug er ihr das Säckchen mit dem Holz, das sie geholt hatte für den Herd, und folgte ihr bis vor das Haus. Schon beim zweiten Mal aber ging er mit ihr die Treppe hinauf, zu dem Saal im Adelsstock, wo die Frau Gräfin in Gesellschaft ihrer Zofe Chichetti [ 83 ]bei einem Kohlenbecken saß. Und als sie die beiden jungen Leute auf der Schwelle sah, rief sie ihnen zu, herbei zu treten, und sie taten es, und Aldo sagte, daß er der Linda wohlwolle, und sie sagte, daß sie beschlossen habe, ihn zum Mann zu nehmen. Da aber die beiden Alten erwähnten, den Fall müßten sie dem Gärtner mitteilen, fing das Mädchen zu weinen an und der junge Mann weinte mit ihr aus Zorn, weil sie ihm gesagt hatte, wie die Dinge standen. Die Tränen der jungen Leute bewogen sowohl die Gräfin wie die Zofe zum Mitleid, so daß sie dem Nazzarri, als er wiederkam, die Sache verschwiegen. Dennoch aber faßte er Verdacht, weil das Mädchen nicht mehr zaghaft schien, sondern den Kopf hob und sang. So kam es, daß der Aldo und die Linda, als sie eines Abends, schon im Dunkeln, vor dem Haus hin und her gingen, um die Ecke der Via [ 84 ]Barbieri den Nazzarri erscheinen sahen, und dieses Mal ohne Gemüse und in der Haltung eines Spähenden. Das Mädchen, zitternd vor Furcht, griff nach der Hand des Verlobten und zog ihn hinter die Haustür. „Er hat uns schon gesehen,“ flüsterte sie. „O mein Aldo, was jetzt?“ — Er sagte: „Ich will mich nicht verstecken, laß mich hinauf, Linda, und du sollst sehen wie die Sache endet.“ — Sie hielt ihn aber fest mit aller ihrer Kraft und beschwor ihn, daß er das, was er meine, um Gottes willen nicht tue, denn der Nazzarri sei der Bruder ihrer Mutter. Und damit er nichts unternehmen könne, zog sie ihn die Treppe hinauf. In die Haustür sprang schon der Nazzarri und war sogleich hinter ihnen her. Sie liefen über die erste Treppe. Der Gärtner, auf ihren Fersen, rief: „Das sollst du mir bezahlen, Verführer meines Kindes!“ und Aldo rief zurück, schon von der zweiten Treppe: [ 85 ]„Bezahlen wirst du selbst!“ Da waren sie im Adelsstock und von dem Geschrei kamen die beiden Alten hervor. Durch sie ward der Gärtner aufgehalten, die jungen Leute erlangten einen Vorsprung, sie erreichten ein Zimmer unter dem Dach und sperrten sich ein.

Da atmeten sie nun nach dem Lauf, standen und sahen erregt einander an. „Ich wollte es nicht sagen,“ gestand Linda, „aber ich wußte es, denn ich hatte einen Mönch von Sant’ Agnese gesehen, der uns beobachtete, und so wußte ich, wir seien verloren.“ — „Das sind wir nicht,“ sagte Aldo. — „Aber er wird mich Dir fortnehmen.“ — „Das wird er nicht tun,“ sagte Aldo. Und inzwischen hörten sie schon seinen Schritt vor der Tür. Er riß daran und trat dagegen, obwohl die beiden Alten ihm zuredeten; aber er hörte nichts und schrie nur immer nach dem Verführer seines Kindes. „Wohin [ 86 ]mit uns, wenn die Tür zerbricht,“ sagte Linda. Aldo aber öffnete das Fenster und sah, daß das Zimmer in einem Winkel des Hofes lag. An der andern Wand des Winkels war ein Balkon, dorthin dachte er zu entkommen mit seiner Geliebten. Er sagte ihr, er wolle den Gang wagen über den Abgrund, und dann werde er ihr zu helfen wissen. Aber sie zeigte ihm die klaffenden Risse in dem Stein des Balkons, seine lockeren Eisenklammern und dahinter das verfallene Haus. Denn dort ist ein Haus, das seine Bewohner verlassen haben, und die Arbeiter, die es wieder herstellen sollen, betraten es noch selten. Der junge Kohlenträger sprach nichts mehr, er schwang sich, indeß Linda dastand ohne Regung, über das Fenster, er faßte ein Stück Eisen in der Mauer, trat in eine Lücke zwischen den Steinen, dann in die nächste, und so bis zu dem Balkon. Behutsam stieg er [ 87 ]hinein, und aus dem Zimmer dahinter holte er eine Leiter, die schob er hinüber, in das Fenster zur Linda. „Komm!“ sagte er, und sie kam — über die Leiter, die er nicht auf die unsichere Brüstung des Ballons legte, sondern in seiner festen Hand hielt. Wie sie aber mitten über der Tiefe kniete, gab im Zimmer hinter ihr die Tür nach und der Nazzarri stürzte herein. Ein Blick, erstarrt waren sein Geschrei und seine geschwungene Faust. Die beiden Alten kam eine Schwäche an. Der Aldo drüben empfing in seinen Armen die Linda, und gemeinsam traten sie in das Dunkel des verlassenen Hauses.

Wer sich nicht zufrieden gab, war der Gärtner. Er machte Aufruhr im Hof und auf der Straße. Die meisten lachten ihn aus, auch die Wächter glaubten ihm nicht, denn das Haus war verschlossen von allen Seiten. Mehrere Neugierige fanden sich immerhin, die im Hof [ 88 ]Übungen anstellten, um ein langes Seil bis dort hinauf und über den Balkon zu werfen. Zum Schluß gelang es ihnen, aber wie man ein wenig daran zog, fiel ein Stein herab, und so ließ man es. Erst am Morgen konnte der Nazzarri den finden, der den Schlüssel hatte, und das Haus aufsperren. Hierbei drangen Viele mit ein, denn der Fall war in der Straße umhergekommen, und sie sahen es als ein Abenteuer an, das nicht ohne Grauen und Gefahr wäre, führten einander irre im Haus, erschreckten einander und ahmten die Stimmen von bösen Geistern nach. Die Liebenden inzwischen zogen sich vor der nahenden Menge zurück, aus dem Innern des Hauses, hin und her, bis in seinen äußersten Winkel, und so fanden sie sich am Ende wieder in dem Zimmer, durch das sie hineingelangt waren. Es sah so wüst und kahl aus im Tageslicht, als eröffnete es ihnen, [ 89 ]hier ende die Welt. „Nun geht es in Wahrheit nicht weiter,“ sagte Linda. „Nur einen Schritt noch,“ sagte Aldo. „Mit Dir!“ sagte Linda, und sie traten auf den Balkon hinaus, an seinen Rand, der schon wankte. Vom Hof die Leute sahen es, welche ernsten Gesichter sie beide hatten, die Augen groß aufeinander, und blauer Himmel nahm ihre Stirnen auf. Unter ihren Füßen geschah ein Krachen. Ihre Arme hoben sich, sie wollten wohl hingreifen, wo ein Halt wäre; und so faßten sie Eines um das Andere. Umschlungen stürzten sie hinab. Aldo, der zuerst unten aufschlug, war sofort tot, die Linda fiel auf ihn, sie brachten sie noch lebend in das Hospital Santo Spirito. Zu ihrem Glück blieb sie ohne Bewußtsein. In der Nacht starb auch sie. Sie war sechzehn Jahre alt, ihr Aldo erst achtzehn. Sie hatte die Mutter in Montereale, Provinz Aquila.
 
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