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mußte. Aber er schob es hinaus, er konnte nicht. Agnes sah ihn tief an. „Ich weiß,“ sagte sie langsam, „daß du im Herzen ein guter Mensch bist. Du mußt nur manchmal anders tun.“ Darüber erschrak er. Dann sagte sie, als entschuldigte sie sich: „Heute hab ich gar keine Furcht vor dir.“

„Hast du denn sonst Furcht?“ fragte er reumütig. Sie sagte:

„Ich habe mich immer gefürchtet, wenn die Leute recht hochgemut und lustig waren. Bei meinen Freundinnen früher war es mir oft, als könnte ich mit ihnen nicht Schritt halten, und sie müßten es merken und mich verachten. Sie merkten es aber nicht. Schon als Kind: ich hatte eine Puppe mit großen blauen Glasaugen, und als meine Mutter gestorben war, mußte ich nebenan bei der Puppe sitzen. Sie sah mich immer starr an mit ihren aufgerissenen harten Augen, die sagten mir: Deine Mutter ist tot, jetzt werden dich alle so ansehen wie ich. Gerne hätte ich sie auf den Rücken gelegt, damit sie die Augen schloß. Aber ich wagte es nicht. Hätte ich denn auch die Menschen auf den Rücken legen können? Alle haben solche Augen, und manchmal —“ sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, „manchmal sogar du.“

Der Hals war ihm zugeschnürt, er tastete über ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. „Agnes! Süße Agnes, du weißt gar nicht, wie ich dich liebhabe … Ich hab’ Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab’ ich mich nach dir gesehnt, aber du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut…“ Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschrieben hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtisch lag. Sie hatte sich aufgerichtet und hörte ihm zu, entzückt, die

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