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senschaft. Was Naturforscher von Gemsjägern als verbürgt erzählen, findet sich häufig auch im tradierten Sagenfundus. So klingt etwa in der oft kolportierten Geschichte, wonach ein Jäger mit einer Kugel drei Gemsen auf einmal geschossen habe,[26] das Freischützmotiv an. Der Freischütz hat mit dem Teufel einen Pakt, wonach er in einem gewissen Zeitraum immer eine oder mehrere Kugeln zur Verfügung hat, die unfehlbar treffen. Diesen Pakt bezahlt er schliesslich mit dem Tod. Auch der gewaltsame Tod vieler Gemsjäger wird in Sagen häufig mit Teufelspakten erklärt. Ihre Tollkühnheit und ihr Jagdfieber, die auch die Alpenforscher immer wieder hervorstreichen, verführt sie in zahlreichen Sagen dazu, Warnungen der Berggeister, endlich vom blutigen Geschäft abzulassen, zu missachten, was sie ebenfalls mit Tod oder Verstümmelung bezahlen. Auch wenn die Aufklärer solchen Aberglauben verspotten, zeigen sie sich gerade von jenen Charakterzügen und Eigenschaften fasziniert, die dem Gemsjäger in den Sagen immer wieder zum Verhängnis werden. Saussure beobachtet folgendes an ihnen: «Die wenigen unter den Jägern, die bey dieser Lebensart alt werden, tragen die Züge davon auf ihren Gesichtern eingegraben: ein wildes Aussehen, etwas Trotziges und Grausames zeichnet sie, auch wenn sie schon nicht ihre gewöhnliche Kleidung tragen, mitten unter einer Menge von ändern aus. Daher kömmt es auch allem Anschein nach, dass sie von einigen abergläubischen Bauern für Hexenmeister gehalten werden, die in diesen wilden Wüsteneyen mit dem Teufel Umgang pflegen, der sie denn endlich, ihrer müde, in die Abgründe hinabstürze.»[27]

Die Figur des Gemsjägers verhilft nicht nur dazu, Räume zu erschliessen und sie mit ändern zu verbinden, sie kodiert diese Räume neu. Als Projektionsfigur für überkommene, aus der Tradition der Volkskultur stammende Ängste, bietet sich der Gemsjäger geradezu idealtypisch an, auch die ganz anders geartete Furcht, wie die neue Bildungselite sie vor der noch unbekannten und daher unheimlichen Zone der Hochalpen empfindet, auf sich zu nehmen.

Johann Jakob Scheuchzer hatte den Gemsjäger zu Beginn des Jahrhunderts mit jener Vielschichtigkeit und Elastizität ausgestattet, die diese Figur geeignet erschienen liessen - eher jedenfalls als den Wildheuer und den Strahler -, daran bestimmte Fragen im Zusammenhang mit dem Hochgebirge, aber auch moralische Probleme durchzuspielen, die sich in dieser Phase des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs stellten. Nachdem er

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BÜRGI: HÖHENANGST, HÖHENLUST