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der biographischen Ebene den Blick auf und die Analyse der Erfahrungsebene der Akteurlnnen, wie sie selbst die Migration erfahren, erlebt und gedeutet haben. Es kann somit auch untersucht werden, ob für die einzelnen die Migration einen zentralen Einschnitt im Leben darstellte, oder ob nicht vielmehr Kontinuitäten dominierten, oder aber andere Diskontinuitäten bedeutsamer waren. Nicht zuletzt kann dadurch die Fähigkeit der einzelnen untersucht werden, unter Einsatz ihres «sozialen Kapitals» mit Veränderungen umzugehen.

Trotz der möglichst weitgehenden Zurückhaltung des/r Interviewerin ist jedes Interview das Produkt einer Interaktion von Biographin und Zuhörerin.[6] Der so produzierte biographische Text richtet sich stark nach den aktuellen Interessen, danach, was der/die Biographin sein will und darf beziehungsweise was der/die Interviewerin hören will und nicht hören will.[7] Biographische Selbstpräsentation bedeutet immer Selektivität, das heisst Ausschliessungen von Erfahrungen, Betonungen von anderen Erfahrungen, welche nicht zuletzt zur Konstruktion von «Identität»[8] beitragen. Soziale Konstruktionen, und biographische im besonderen, haben für das handelnde Subjekt die Funktion, Identität und Kontinuität zu sichern, insbesondere dann, wenn Situationen wechseln. Gerade in Situationen gesellschaftlicher Desorientierung, von Umbrüchen oder Wandel wird die gegenseitige Erzählung, wer man war, was man gemacht hat, zentral.

Das Ergebnis sind Datentexte, welche möglichst lückenlos die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des/r Biographin reproduzieren und «den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich, das heisst ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen darstellen».[9] Derartige erzählte Lebensgeschichten sind in ihrer Entstehung an die Gegenwart ihrer Produktion gebunden, welche den Rückblick auf die Vergangenheit bestimmt. Erzählte Lebensgeschichten sind somit keine Wiederspiegelungen der vergangenen Realität, nicht die in der Vergangenheit gelebte Realität. Vielmehr reflektiert die erzählte Lebensgeschichte in der Vergangenheit gelebte Erfahrungen und Erlebnisse - das «gelebte Leben»

- gefiltert und modifiziert durch spätere Lebenserfahrungen.[10] Darüber hin aus verweisen biographische Darstellungen auch auf Zukunftsperspektiven der Interviewpartnerinnen, auf Pläne, Hoffnungen, Potentialitäten in der Zukunft. Mit M. Pollack gesprochen ist «Erinnerung [...] aufs engste

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SCHWEITZER: «... UND DANN SIND WIR HERAUSGEKOMMEN ...»