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Alpenforschung und sie gelten als geradezu typisch für die alpine Bevölkerung früherer Jahrhunderte. Sie lassen sich in den Westalpen ebenso beobachten wie im Osten, im Winter ebenso wie im Sommer. Lange Zeit wurden sie vorwiegend mit der relativen Übervölkerung einzelner, wenn auch keineswegs aller Alpentäler in Verbindung gebracht: mit den mangelnden Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten, welche die alpine Landwirtschaft seit dem 15./16. Jahrhundert einer wachsenden Bevölkerung bot. Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen den vorhandenen Ressourcen und der daraus zu ernährenden Bevölkerung, das durch fallweise Krisen wie Kriege und Missernten noch verstärkt werden konnte, habe einen Teil dieser Bevölkerung geradezu gezwungen, vorübergehend auszuwandern, um nicht zu verhungern. Derartige Überlegungen sind vor allem, aber keineswegs nur im Zusammenhang mit dem Massenphänomen der Schweizer Söldner, die zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert in ausländischen Armeen dienten, angestellt worden.

Allerdings ist die fast zum Gemeinplatz gewordene These von der Auswanderung aus Not in den letzten Jahren speziell von französischer Seite in Frage gestellt worden. Laurence Fontaine, Anne-Marie Granet-Abisset und andere haben darauf hingewiesen, dass nicht nur die nackte Not, sondern auch andere, zum Teil geradezu gegenteilige Motive hinter der temporären Migration standen.[3] Sie sprechen von einer «émigration de la réussite» und meinen damit die Hoffnung und die Erwartung, ausserhalb des eigenen Tales nicht nur überleben zu können, sondern sogar zu einem höheren Lebensstandard zu gelangen als es zu Hause möglich gewesen wäre: Hoffnungen, die etwa durch den Aufstieg so manchen Hausierers zu einem wohlhabenden Geschäftsmann genährt wurden.

Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum gewisse Gegenden gelegentlich sowohl Aus-als auch Einwanderungsgebiete sein konnten: Die Arbeitsplätze - und dies gilt zum Teil noch heute - die für die Zuwanderer zum Überleben gerade ausreichten, waren den Einheimischen zu wenig lukrativ, weshalb sie auswärts besser bezahlte Erwerbsmöglichkeiten suchten. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass bei der «émigration de la misère» die sogenannten Push-Faktoren, bei der «émigration de la réussite» dagegen die Pull-Faktoren im Vordergrund standen. Wie sich das eine mit dem anderen vermischen konnte, lässt sich etwa am Beispiel der sogenannten Schwabenkinder beobachten, die jedes Jahr im Sommer aus Graubünden, Vorarlberg und dem westlichen Tirol in das süddeutsche Alpenvorland

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3