Professor Unrat/Kapitel VI

198485Professor Unrat — Kapitel VI1906Heinrich Mann

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VI

 

Am Morgen trafen Ertzum, Kieselack und Lohmann einander mit bleichen Gesichtern. Inmitten der lärmenden Klasse kam jeder der drei sich vor wie der Verbrecher, der einen Brief mit seinem Namen unterwegs weiß an den Staatsanwalt, und seine Umgebung ist ahnungslos. Nach Minuten zählt die Frist … Kieselack hatte an der Tür des Direktorzimmers gehorcht und behauptete, Unrats Stimme darin gehört zu haben. Er prahlte nicht mehr, er flüsterte Ertzum hinter der Hand, mit schiefem Munde zu: „O weih, Mensch!“ Lohmann hätte für die kommende Stunde gern mit einem der Ärmsten im Geist getauscht.

Unrat trat hastig ein und machte sich sofort atemlos über seinen Ovid her. Er ließ das auswendig Gelernte hersagen und fing beim Primus Angst an. [ 100 ]Dann kamen die Schüler mit B. Bei E angelangt, sprang er ab, nach M hin. Ertzum stieß einen Seufzer aus. Kieselack und Lohmann stellten befremdet fest, daß K und L verschont blieben.

Beim Übersetzen traf keinen von ihnen eine Frage. Sie litten darunter, obwohl sie „ihrs nicht präpariert“ hatten. Es ward ihnen zumute, als seien sie ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, hätten schon den bürgerlichen Tod erlitten. Was konnte Unrat planen? In der Pause mieden die drei einander, aus Furcht, man könne ahnen, es verkette sie ein unheilvolles Geheimnis.

Drei Stunden bei andern Lehrern verstrichen unter häufigem Erschrecken. Ein Schritt auf dem Hof, ein Knarren der Treppe: der Direktor!… Aber es kam nichts. Und die griechische Stunde ließ Unrat hingehn wie die lateinische. Kieselack geriet in Galgenstimmung und reckte eine Hand in die Höhe, obwohl er nicht hätte antworten können. Unrat übersah ihn. Darauf schwenkte er seine blaue Pfote bei allen Fragen durch die Luft und knallte mit den Fingern. Lohmann gab das Warten auf und öffnete unter dem Tisch die „Götter im Exil“. Ertzum, von der Schule wieder unterworfen und klein gemacht, war, wie immer, schwitzend bemüht, der Klasse zu folgen, und blieb zurück, wie immer.

Beim Weggehen waren sie darauf gefaßt, der Kustos werde sie zum Direktor rufen, mit einem Schlimmes versprechenden Lächeln. Nein, der Mann mit der Glocke nahm ganz schlicht die Mütze ab vor den jungen Herren. Draußen sahen sie einander an, [ 101 ]mit einem Jubel, der sich fürchtete vorm Ausbrechen. Kieselack war der Erste, der ihn steigen ließ.

„Seht ihr wohl! Ich hab’ gleich gesagt, er wagt es nicht!“

Lohmann war ärgerlich, weil er sich hatte ängstigen lassen.

„Wenn der Mensch meint, er kann mich an der Nase führen —.“

Ertzum sagte:

„Es kann ja noch kommen.“

Und mit jäher Wildheit:

„Es soll nur kommen! Ich weiß, was ich tu’!“

„Ich kann mir denken,“ sagte Lohmann. „Du prügelst Unrat durch. Dann koppelst du dich mit der Fröhlich zusammen, und ihr springt ins Wasser.“

„Nein — das nicht,“ sagte Ertzum erstaunt.

„Menschenskinder, ihr habt ja ’n Spleen,“ sagte Kieselack. Und sie trennten sich. Lohmann erklärte noch:

„Mir lag eigentlich nichts mehr an dem Blauen Engel. Aber bange machen gilt nicht: jetzt geh’ ich grade hin.“

Am Abend kamen er und Ertzum fast gleichzeitig vor dem Hause an. Sie warteten noch auf Kieselack. Ihn ließen sie immer vorangehen, zuerst in die Garderobe der Künstler treten, den Mund zuerst aufmachen, zuerst gemütlich werden. Ohne Kieselack wäre dies alles nicht gegangen, sie brauchten ihn und seine Frechheit. Er hatte kein Geld, sie mußten für ihn bezahlen, und Kieselack hütete sich, sie merken zu lassen, was sie alles bezahlten, und daß es seine, Kieselacks geheime [ 102 ]Freuden waren, für die Rosa von ihnen Blumen, Wein und Geschenke entgegennahm.

Er traf endlich ein, ohne sich ihretwegen zu beeilen, und sie gingen ins Haus. Indessen vom Wirt erfuhren sie, im Künstlerzimmer sitze ihr Lehrer. Darauf sahen sie bestürzt einander an und drückten sich.
 

Als Unrat gestern nacht glücklich wieder zu Haus angelangt war, hatte er seine Arbeitslampe angezündet und sich vor sein Schreibpult gestellt. Der Ofen wärmte noch, die Uhr tickte, Unrat blätterte in seinem Manuskript und sagte sich:

„Das Wahre ist nur die Freundschaft und die Literatur.“

Er fühlte sich der Künstlerin Fröhlich entronnen und fand die „Nebendinge“, mit denen der Schüler Lohmann sich abgab, auf einmal tief gleichgültig.

Aber beim Erwachen in dunkler Frühe merkte er, es sei nicht in Ordnung, bevor er nicht den Schüler Lohmann „gefaßt“ habe. Er machte sich gleichwohl wieder an die Partikel bei Homer, aber die Freundschaft und die Literatur konnten ihn nicht mehr fesseln. Sie konnten ihn niemals mehr fesseln, fühlte er, solange Lohmann ungehindert bei der Künstlerin Fröhlich saß!

Einen Weg, dies zu verhindern, hatte die Künstlerin Fröhlich selbst angegeben; sie hatte gesagt: „Aber Sie müssen morgen wiederkommen, sonst machen Ihre Schuljungen hier Unfug“ … Wie ihm die Worte wieder einfielen, errötete Unrat. Denn die Worte [ 103 ]brachten auch die Stimme der Künstlerin Fröhlich zurück, ihren kitzelnden Blick, ihr ganzes buntes Gesicht und die zwei leichten Finger, mit denen sie unter Unrats Kinn getastet hatte … Unrat sah sich scheu nach der Tür um und beugte sich, wie ein Schüler, der „Nebendinge“ verbirgt, mit geheucheltem Eifer über seine Arbeit.

Das hatten die drei Verworfenen — freilich denn nun — durch die rote Gardine erblickt. Und wenn Unrat es unternahm, sie vor dem Tribunal des Herrn Direktors zur Rechenschaft zu ziehen, dann waren sie, sich verloren sehend und die letzte Scham abwerfend, imstande, das Erblickte öffentlich zu bekunden! In der Liste der Verbrechen des Lohmann stand auch der von ihm bezahlte Wein — von dem Unrat getrunken hatte … Der Schweiß brach ihm aus. Er sah sich gefangen. Die Widersacher würden behaupten, nicht Unrat habe Lohmann „gefaßt“, sondern Lohmann ihn … Und das Bewußtsein, in einem mehr als jemals hitzigen und völlig einsamen Kampf zu stehen gegen das Heer der empörten Schüler, machte Unrat stark, gab ihm die Gewißheit, er werde noch manchem von ihnen die Laufbahn erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Mit leidenschaftlicher Entschlossenheit trat er den Schulweg an.

Die drei Verbrecher „hineinzulegen“, fehlte es wahrhaftig nicht an Gelegenheit. Was Lohmann anging, so genügte vollauf sein unverschämter Klassenaufsatz. In der Woche vor den Zeugnissen würde Unrat ihnen Fragen stellen, an denen sie scheitern [ 104 ]mußten. Er dachte sich schon welche aus … Als er das Stadttor hinter sich hatte, kamen ihm Bedenken; und je mehr er sich dem Schulgebäude näherte, in eine um so drohendere Zukunft blickte er. Die drei Aufständischen hatten nun wohl schon die Klasse aufgewiegelt, indem sie ihr vom Blauen Engel erzählt hatten. Wie würde sie Unrat empfangen. Die Revolution brach aus!… Die Panik des bedrohten Tyrannen durchsprengte ihn schon wieder, kreuz und quer, wie geschlagene Reiter. Er schielte mit giftiger Angst um die Straßenecken, nach Schülern, nach Attentätern.

Er war nicht mehr der Angreifer, als er das Klassenzimmer betrat. Er wartete ab; er trachtete sich dadurch zu retten, daß er die Ereignisse des gestrigen Abends stillschweigend leugnete, die Gefahr verheimlichte, die drei Verbrecher übersah … Unrat bezwang sich, als ein Mann. Er ahnte nicht, was Kieselack, Ertzum und Lohmann für Angst ausstanden; aber auch sie ahnten nichts von seiner.

Nach Schulschluß bekam er, gerade wie sie, seinen Mut zurück. Lohmann sollte nicht frohlocken! Er mußte von der Künstlerin Fröhlich ferngehalten werden: es war eine Machtfrage für Unrat und eine Angelegenheit seiner Selbstachtung, dies zu bewirken. Wie? „Sie müssen morgen wiederkommen,“ hatte sie gesagt. Es blieb nichts anderes übrig; wie Unrat das erkannte, erschrak er. Und in seinem Erschrecken war etwas Süßes.

Er konnte nicht zu Abend essen, so erregt war [ 105 ]er, und verließ trotz des Widerspruchs seiner Wirtschafterin sogleich das Haus, um der erste zu sein im Kabuff — in der Garderobe der Künstlerin Fröhlich. Lohmann durfte nicht bei ihr sitzen und Wein trinken: das war Aufruhr, Unrat ertrug es nicht. Weiter war ihm nichts bewußt.

Wie er hastig auf den Blauen Engel zuschlich, bemerkte er nicht gleich den farbigen Zettel im Haustor und suchte ihn einige Sekunden lang, völlig kopflos … Gottlob, da war der Zettel. Die Künstlerin Fröhlich war also nicht, wie Unrat eben gefürchtet hatte, plötzlich abgereist, geflüchtet, vom Erdboden verschlungen. Sie sang noch, war noch bunt, kitzelte noch mit ihrem Blick. Und aus seiner Befriedigung hierüber zog Unrat eine kurze Erkenntnis. Nicht nur, daß ihr der Schüler Lohmann fernbleiben sollte: Unrat selbst wollte bei der Künstlerin Fröhlich sitzen … Aber diese Erkenntnis verdunkelte sich sofort wieder.
 

Der Saal war noch leer, fast finster, unheimlich weit; und die zahllosen schmutzigweißen Stühle und Tische standen durcheinandergeschoben wie eine Hammelherde auf der Haide. Neben dem Ofen und bei einer kleinen blechernen Lampe saß der Wirt mit zwei andern Männern; sie spielten Karten.

Unrat drückte sich, im Wunsch nicht gesehen zu werden, wie eine Fledermaus die schattige Wand entlang. Wie er schon ins Künstlerzimmer entwischen wollte, rief der Wirt, daß es schauerlich hallte: [ 106 ]


„Nabend Herr Professer, das freut mich, daß es Ihnen in mein Lakal gefallen hat.“

„Ich wollte nur — ich meinte nur — die Künstlerin Fröhlich…“

„Gehn Sie man rein und warten auf ihr, es is ja man eben sieben. Ich bring’ Sie auch ’n Bier.“

„Danke,“ rief Unrat zurück, „ich bin nicht gesonnen zu trinken … Aber —“ und er streckte den Kopf aus der Tür — „späterhin werde ich wahrscheinlich eine größere Bestellung machen.“

Darauf zog er die Tür zu und tappte in die Nacht der Garderobe hinein. Als es ihm gelungen war, Licht zu machen, räumte er Korsetts und Strümpfe von einem Stuhl, setzte sich an den Tisch, auf dem es noch wie gestern aussah, nahm seine Lehrer-Agenda aus der Rocktasche und begann aus den Nummern hinter jedem Schülernamen die vorläufige Bewertung der Leistungen zu bilden. Bei E angelangt, sprang er eilig zu M über, gerade wie am Morgen in der Klasse. Hinterher besann er sich, schlug zurück und versah Ertzums Namen mit einem wütenden Ungenügend. Kieselack kam an die Reihe, dann Lohmann. Das Zimmer war lautlos und sicher, und Unrats Mund gekrümmt von Rachsucht.

Nach einer Weile schienen sich im Saal die ersten Gäste niederzulassen. Er geriet in Unruhe. Die dicke Frau von gestern trat ein, unter einem schwarzen Hut mit wilder Krämpe und sagte:

„Ja was denn, Sie, Herr Professor? Das sieht ja aus, als ob Sie hier übernachtet hätten!“ [ 107 ]


„Liebe Frau, ich komme wegen gewisser Geschäfte,“ belehrte Unrat sie. Aber sie drohte mit dem Finger:

„Ihre Geschäfte kann ich mir lebhaft vorstellen.“

Sie hatte Boa und Jacke abgelegt.

„Nu müssen Sie aber erlauben, daß ich mir die Tallje auszieh’.“

Unrat stammelte etwas und sah weg. Sie kam in einem stark ergrauten Frisirmantel und klopfte ihn auf die Schulter.

„Daß ich es man sage, Herr Professor, ich wundere mich nicht ’n bißchen, daß Sie schon wieder hier sitzen. Das sind wir bei Rosa nicht anders gewöhnt. Wer die mal richtig kennen lernt, der muß sie lieb haben, da gibt’s nischt. Und mit Recht, denn es is doch ’n reizendschönes Mädchen.“

„Das mag ja denn — immer mal wieder — ganz richtig sein, liebe Frau, aber — nicht darum…“

„Nee. Auch wegen dem Herzen, was das Mächen hat. Das is sogar die Hauptsache. Gott ich sage —!“

Sie legte die Hand auf ihr eigenes Herz, unter dem klaffenden Frisiermantel. Dabei himmelte sie, und ihr Doppelkinn schwankte vor Rührung.

„Die schneidt sich ja oft genug selbst in ’n Finger, aus purer Menschenliebe! Es muß davon kommen, weil ihr Vater Krankenpfleger war. Ob Sie es nu glauben oder nicht, Rosa hat immer ’ne Schwäche für die älteren Herren gehabt. Und nich bloß wegen dem…“ [ 108 ]


Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

„Sondern weil ihr Herz mal so is. Denn die älteren Herren haben ’ne liebevolle Behandlung am nötigsten … Manchmal is sie wirklich gutmütiger, als von der Polizei erlaubt is. Sehn Sie, ich kenn’ sie ja von Kindesbeinen. Von mir haben Sie alles aus erster Hand.“

Sie setzte sich auf die Tischkante, engte Unrat ein zwischen ihrer mächtigen Person und der Lehne seines Stuhles, schien ihn ganz in Beschlag zu nehmen und zu umhüllen mit der Atmosphäre dessen, was sie erzählte.

„Wie das Mächen noch nich sechzehn war, ging sie schon egal ins Panoptikum und zu den Artisten, die da arbeiten. Sie begreifen, was mal von Hause aus Künstlerin is … Na, da war ’n alter Herr, der wollte sie ausbilden lassen. Die Ausbildung kennt man ja, die fängt ganz von vorn an bei Adam und Eva und bei dem sauern Apfel. Als sie den intus hatte, kommt sie zu mir und heult. Ich sag’ natürlich, du, dem Ollen ziehn wir die Kandare an, du bist ja erst in zwei ’ner halben Woche sechzehn, der muß blechen, bis ihm die Luft ausgeht. Aber sie will nicht! Hat man von so was ’n Begriff. Sie hat zuviel Mitleid gehabt mit dem Greis, ich hab’ sie nicht rumkriegen können. Im Gegenteil, sie is von selber wieder zu ihm hingegangen; das läßt doch tief blicken. Auf der Straße hat sie ’n mir gezeigt: ’n richtiger Krippensetzer. Aber kein Vergleich, nich die Bohne von Vergleich mit Ihnen, Herr Professor!“ [ 109 ]


Sie tippte ihn mit zwei Fingern gerade ins Gesicht. Da er ihr noch nicht genügend angeregt schien, bestand sie auf dem Gesagten.

„Nich die Bohne, behaupt’ ich! Und überhaupt war das ’n Ekel. Bald drauf ist er gestorben, und was meinen Sie, was er Rosa vermacht hat? Seine Photographie, unter diskretem Verschluß. Nu platz’ vor Glück! Nee, da muß doch ’n genereeser Mann, der noch gut erhalten is und auch wirklich Herz hat für so’n Mächen, der muß doch noch ’n bedeutend tiefern Eindruck machen, sag’ ich.“

„Freilich denn wohl —“ aber Unrat suchte nach einem schwierigen Übergang. „Sei dem nun aber wie immer ihm wolle, so ist doch dies —“

Sein Lächeln sah vor Verlegenheit giftig aus.

„— kein Einwand dagegen, daß ihr ein junger Bursch, welcher des Geistes einerseits und des Gemütes andererseits nicht völlig ermangelt, immerhin noch mehr zusage.“

Die Frau fiel lebhaft ein.

„Wenn Sie sonst keine Schmerzen haben, denn macht es nischt. Die Jungen, die hat unsere Rosa bis hier raus, das glauben Sie mir!“

Sie schüttelte Unrat stark an der Schulter, um ihm die Wahrheit körperlich fühlbar zu machen. Dann ließ sie sich vom Tisch auf den Boden plumpsen und sagte:

„Da verplaudert man sich. Jetzt muß ich aber an die Arbeit, Herr Professor, ein andermal widme ich mich wieder Ihnen.“ [ 110 ]


Sie setzte sich vor den Toilettenspiegel und rieb sich das Gesicht mit Fett ein.

„Nu sehn Sie lieber wo anders hin, scheen is es nicht.“

Unrat sah gehorsam weg. Er hörte auf dem Klavier einige Töne anschlagen. Der Saal rauschte dumpf, als sei er halb gefüllt.

„Und Ihre Schuljungen,“ warf die Frau hin, mit einem Gegenstand zwischen den Zähnen, „die können überhaupt die Hälse lang machen und jiepern!“

Unrat folgte dem Trieb, sich nach dem Fenster umzusehen. Hinter der roten Gardine reckte wirklich ein Schatten den Hals aus.

Im Saal geschah ein langes „Hohohoho“. Die Künstlerin Fröhlich stand auf der Schwelle, und die Türöffnung hinter ihr ward sogleich versperrt durch die breite Gestalt des Artisten Kiepert. Als sie beide drinnen waren, rief er:

„Sehr schmeichelhaft, Herr Professor, daß Sie auch wieder da sind!“

Die Künstlerin Fröhlich bemerkte:

„Da is er ja! Na also.“

„Sie wundern sich vielleicht —“ stotterte Unrat.

„Aber kein Bein,“ erklärte sie. „Helfen Sie mir man aus dem Mantel raus.“

„— daß ich meinen Besuch so schnell wiederhole —“

„Wo wer’ ich denn!“

Sie hatte die Arme, wie Henkel, an ihrem großen roten Federhut, zog Nadeln heraus und lächelte von unten diebisch nach Unrat. [ 111 ]


„Aber —“ und er war in Not — „Sie meinten selbst, ich müßte wiederkommen.“

„Nu woll!“ — und sie schwenkte den Hut wie ein Feuerrad. Ausplatzend:

„Er ist zum Schreien!… Ich wer’ Sie doch nich laufen lassen — Alterchen!“

Dabei beugte sie, die Hände auf den Hüften, ihr Gesicht ganz dicht vor seines.

Unrat sah aus wie ein Kind, das heftig erschrickt, weil die Fee auf dem Theater plötzlich einen falschen Zopf verliert. Die Künstlerin Fröhlich bemerkte es und holte sich sofort aus ihrem Heiterkeitsanfall zurück. Sie seufzte, den Kopf auf der Schulter.

„Aber Sie müssen man nich glauben, daß ich gemeint hab’, es könnt’ mir gar nich fehlen. Da wären Sie falsch unterrichtet. Ich hab’ im Gegenteil immer zu Guste gesagt: Er ist doch ’n Doktor und ’n Professor, und ich bin ’n armes unwissendes Mädchen, was hab’ ich so ’nem Mann denn zu bieten … Frau Kiepert, is es vielleicht nich wahr, daß ich das zu Ihnen gesagt hab’?“

Die dicke Frau bekräftigte es.

„Aber sie,“ sagte die Künstlerin Fröhlich, und zuckte unschuldig die Achseln, „sie wollte ja immer wissen, Sie würden wohl wiederkommen … Na, also doch!“

Der Artist gab in dem Winkel, wo er sich umkleidete, unförmliche Laute von sich. Seine Frau machte Zeichen, die ihn beschwichtigen sollten.

„Wer sagt mir aber,“ fuhr die Künstlerin Fröhlich fort, „daß Sie überhaupt wegen meiner kommen … [ 112 ]Sie helfen mir ja nich mal aus meinem Paletot ’raus … Vielleicht kommen Sie nur wegen den ekligen Bengels, aus die Sie Wurst machen wollen?“

Und Unrat, errötend, nach Hilfe suchend:

„In erster Linie — eigentlich nun wohl zwar — — ursprünglich…“

Sie bewegte schmerzlich den Kopf.

Die dicke Frau erhob sich vom Toilettentisch, um ihnen beizustehen. Sie zog eine ausgeschnittene rote Bluse an. Sie war gerüstet und hatte ihren glänzenden Teint von gestern zurück.

„Warum helfen Sie dem Fräulein denn nicht aus ihrem Paletot raus,“ sagte sie. „Is das ’ne Art und Weise, wenn ’ne Dame Sie um was bittet?“

Unrat begann an einem ihrer Ärmel zu zerren. Der ließ nicht los, und die Künstlerin Fröhlich taumelte in Unrats Arme; worauf er ratlos innehielt.

„So müssen Sie es machen,“ — und die dicke Frau unterwies ihn. Ihr Gatte trat lautlos dazwischen, schon in Trikots, mit einem schlangenhaften Fleischwulst von einer Hüfte zur andern, und einer behaarten Warze am Hals. Er hielt ein ganz kleines Zeitungsblatt Unrat vor die Augen.

„Das müssen Sie lesen, Herr Professor, der gibt es der Bande.“

Unrat bekam sofort die Sachverständigenmiene, zu der alles Gedruckte ihn nötigte. Er erkannte das sozialdemokratische Lokalblatt.

„Sehen wir denn also,“ versetzte er, „wie es — immer mal wieder — mit dieser Leistung bestellt ist.“ [ 113 ]


„Ausgerechnet die Lehrergehälter,“ sagte der Artist. „Wenn ich nicht grade gestern von geredt hätt’.“

„Ach was,“ entschied die Frau und nahm Unrat das Blatt weg. „Gehalt hat er genug, er braucht ganz was anders. Das ist nicht deine Sache, nu geh’ du man raus zu ’s liebe Vieh.“

Im Saal grunzte, brüllte und pfiff es durch den Donner des Klaviers hindurch. Kiepert gehorchte. Er gab sich unvermittelt das von sich selbst entzückte Ansehen, das Unrat schon gestern in Staunen versetzt hatte, und tänzelte über die Schwelle hinaus in den Saal, der ihn lärmend verschlang.

„Den haben sie weg,“ sagte die dicke Frau. „Bis sie ihn verknust haben, woll’n mir mal der Rosa in die Kleider helfen, Herr Professor.“

„Ja darf er das auch?“ fragte die Künstlerin Fröhlich.

„Er wird doch wissen dürfen, wie eine Frau aus- und angezogen wird. Wer weiß, wozu er das noch mal brauchen kann im Leben.“

„Also wenn Sie nichts dagegen haben —“ und die Künstlerin Fröhlich streifte ihren Rock hinunter. Ihr Korsage stand schon offen, und Unrat bemerkte mit einer Art Schreck, daß sie unter den Kleidern überall schwarz war und glänzte. Aber noch seltsamer war für ihn die Erkenntnis, daß sie keinen Unterrock anhatte, sondern ein Paar weite schwarze Kniehosen. Sie schien sich nichts daraus zu machen, sie sah ganz harmlos aus. Unrat aber war es, als flüstere an seinem Ohr eine erste Offenbarung von Mysterien, [ 114 ]bedenklichen Sachlagen unter der Oberfläche, unter der gut bürgerlichen Oberfläche, die sich vor den Augen der Polizei auf der Straße zeigt. Und er fühlte einen Stolz, der Angst enthielt.

Draußen hatte Kiepert großen Erfolg und begann etwas Neues.

„Jetzt muß er sich doch lieber rumdrehn,“ meinte die Künstlerin Fröhlich. „Jetzt kommt alles runter.“

„Gott Kind, er is ja ’n vernünftiger, solider Mann, was kann es ihm schaden.“

Aber Unrat hatte sich sofort hastig umgewendet. Er hörte gespannt zu, wie es raschelte. Die dicke Frau reichte ihm, in großer Eile, etwas hin, um die Ecke.

„Da, halten Sie mal das.“

Unrat nahm es, ohne zu wissen was es war. Es war schwarz, ließ sich ganz klein zusammendrücken, und fühlte sich merkwürdig warm an, warm wie ein Tier. Plötzlich entwischte es seinen Händen, denn er hatte durchschaut, warum es so warm war, es war die schwarze Hose!

Indes sammelte er sie wieder auf und verhielt sich ganz still. Guste und die Künstlerin Fröhlich wechselten eilig einige technische Urteile, während sie arbeiteten. Kiepert war schon wieder fertig.

„Ich muß raus,“ sagte seine Gattin, „ziehn Sie mal mit an.“

Und da Unrat sich nicht rührte:

„Stehn Sie auf den Ohren?“

Unrat fuhr herum; er hatte „geschlafen“, wie seine Schüler, wenn ihnen die Stunde zu lange währte. [ 115 ]Er erfaßte geduldig die Korsettbänder. Die Künstlerin Fröhlich lächelte ihm über ihre Schulter zu.

„Warum haben Sie mir die ganze Zeit den Rücken zugekehrt? Ich bin ja schon längst wieder anständig angezogen.“

Sie hatte jetzt einen orangefarbenen Unterrock an.

„Überhaupt,“ fuhr sie fort, „ich hab’ das ja man wegen Guste gesagt, vom Rumdrehn. Wegen meiner: — ich möcht’ wohl wissen, wie Sie mich gebaut finden?“

Unrat sagte nichts, und sie rückte ungeduldig den Kopf von ihm weg.

„Ziehn Sie man fest an!… Gott, ich sage! Geben Sie man her, Sie müssen noch viel lernen.“

Sie schnürte sich selbst. Und da er seine unbeschäftigten Hände noch immer hilflos vor sich hinhielt:

„Wollen Sie denn gar nich nett zu mir sein?“

„Freilich wohl,“ stotterte er bestürzt. Er suchte und sagte schließlich, er habe sie in dem schwarzen — in dem schwarzen Gewand noch hübscher gefunden.

„Sie kleines Ferkel,“ sagte die Künstlerin Fröhlich.

Das Korset war in Ordnung … Auch Guste hatte Erfolg, gemeinsam mit Kiepert.

„Nu komm’ aber ich,“ sagte die Künstlerin Fröhlich wieder. „Bloß ’s Gesicht mach’ ich mir noch zurecht.“

Sie setzte sich vor den Spiegel, fingerte behende mit Dosen, Fläschchen, farbigen Stangen. Unrat sah nichts, als daß ihre dünnen Arme immerfort durch die Luft streiften, und vor seinen verwirrten Augen bildete sich ein verschlungenes Spiel rosa-blaßgelber [ 116 ]Linien, die entstanden, wechselten, und deren jede, ehe sie ganz zerging, schon durch eine neue ersetzt war. Er mußte unbekannte Gegenstände vom Tisch nehmen und ihr bringen. Sie fand, inmitten ihrer fieberhaften Tätigkeit, noch die Muße, mit dem Fuß zu stampfen, wenn er etwas Falsches aufhob, und ihn mit dem Blick zu kitzeln, wenn es recht war. Es war sogar unleugbar, daß ihre Augen die Fähigkeit zu kitzeln, in immer höherem Grade erlangten. Unrat konnte endlich keinen Zweifel mehr zulassen darüber, daß es von den Stiften kam, die er ihr gereicht hatte, mit denen sie um das Auge herumstrich; von den roten Flecken in den Winkeln, den roten Strichen über den Brauen und von dem Schwarzen, Fettigen, das sie sich in die Wimpern schmierte.

„Nu noch den Mund klein machen,“ verhieß sie.

Und auf einmal sah er ihr Gesicht von gestern wieder, das ganz bunte. Die Künstlerin Fröhlich saß erst jetzt vor ihm, die eigentliche. Er hatte sie entstehen sehen und merkte es erst jetzt. Ein flüchtiger Blick eröffnete sich ihm auf die Küche, in der Schönheit, Lust, Seele gemacht wird. Er war enttäuscht und eingeweiht. Er dachte gleich hintereinander: „Weiter ist es nichts?“ und „Das ist aber großartig!“ Das Herz klopfte ihm, — und inzwischen rieb die Künstlerin Fröhlich sich die farbigen Fette, die es ins Klopfen gebracht hatten, mit einem Tuch von den Händen.

Darauf befestigte sie das verbogene Diadem von gestern in ihrem Haar … Der Saal war im Toben [ 117 ]begriffen. Sie zuckte mit der Schulter dorthinaus und fragte, die Brauen gerunzelt:

„Haben Sie das vielleicht schön gefunden?“

Unrat hatte nichts gehört.

„Nu soll’n Sie aber sehn, was ’ne Harke ist. Ich singe nämlich heut was Toternstes, drum zieh ich auch lange Röcke an … Geben Sie mir man den grünen herüber.“

Unrat mußte erst nach rechts und nach links über Kleidungsstücke weggsteigen, daß seine Rockschöße flogen. Schließlich hatte er das grüne gefunden; und im Nu stand sie da, märchenhaft umflossen, ohne Taillenbuchtung, nur um Schoß und Schenkel ein wenig eingeengt von einer Rosengirlande … Sie sah ihn an, er sagte nichts; aber mit seinem Gesicht war sie zufrieden. Sie schritt in großem Stil auf die Tür zu. Kurz davor wandte sie sich um, denn sie erinnerte sich des weiten Fettflecks auf ihrer Rückseite, den Unrat jetzt betrachtete.

„Den brauch’ ich den Affen ja nicht zu zeigen, nicht wahr?“ erklärte sie, mit grenzenloser Verachtung. Dann erschien sie gnädig in der weit aufgerissenen Tür. Unrat sprang zurück, man konnte ihn sehn.

Die Tür blieb halb geöffnet. Draußen hieß es:

„Gotts Düwel!“ und „’n grönsieden Kleed!“ und „Wer lang hett, lett lang hängen!“

Auch wurde gelacht.

Das Klavier hatte angefangen Tränen zu vergießen. Im Diskant war es feucht vom Schluchzen, im Baß schnupfte es sich aus. [ 118 ]


Unrat hörte die Künstlerin Fröhlich anstimmen:

„Der Mond ist rund, und alle Sterne scheinen,
Und wenn du lauschest, an dem Silbersee
Steht deine Liebe, und du hörst sie weinen…“

Die Töne tauchten, gleich matten Perlen auf schwarzer Flut, aus der schwermütigen Seele der Sängerin.

Unrat dachte: „Immerhin nun zwar —“ Es ward ihm lau und traurig zu Sinn. Er schlich sich an den Spalt und sah zwischen den Ampeln die grünen Falten der Künstlerin Fröhlich langsam sich bilden und wieder vergehn … Sie neigte den Kopf nach hinten; in Unrats Gesichtsfeld erschien das verbogene Diadem auf ihrer rötlichen Frisur und eine bunte Wange unter einer hohen schwarzen Braue. An einem der vorderen Tische sagte eine hingerissene Stimme, die Stimme eines breiten Landmanns in blauer Wolljacke:

„Nee, is dat Minsch schöen! Wenn ick nu na Hus kam, mach ick jä mien Fru gor nich miehr lieden.“

Unrat sah sich den Mann mit geringschätzigem Wohlwollen an; er dachte:

„Ei freilich nun wohl, Mann.“

Der war nicht dabei gewesen, als die Künstlerin Fröhlich entstanden war! Er wußte nicht, was das Schöne war, war nicht berufen, darüber zu entscheiden, hatte es hinzunehmen, wie’s ihm geboten ward, und mußte noch froh sein, wenn es ihm den Geschmack an seiner Frau verdarb.

Die Strophe endete klagend: [ 119 ]


„Im Takte deines Herzens schwankt mein Nachen,
Mein Herze weint, und alle Sterne lachen.“

Aber auch unter den Hörern lachte wieder einer, mit fettem Prusten. Unrat, aus seiner Stimmung gerissen, suchte vergebens unter den Köpfen. Die Künstlerin Fröhlich begann die zweite Strophe wieder mit „Der Mond ist ruhnd“ … Beim Refrain: „Und alle Sterne lachen —“ lachten nun schon sechs oder sieben Leute. Einer in der Mitte gluckste wie ein Neger. Unrat entdeckte ihn: es war ein Neger! Dieser Farbige steckte seine Umgebung an, Unrat sah andere Gesichter sich in heitere Falten legen. Der Drang erhob sich in ihm, jene Muskeln aus ihren Verzerrungen zurückzureißen. Er trat von einem Fuß auf den andern, eine Art Qual durchlief ihn…

Die Künstlerin Fröhlich verkündete zum drittenmal:

„Der Mond ist ruhnd.“

„Dat weit wie nu,“ sagte jemand, breit und entschieden. Einige Gutgesinnte erhoben Einspruch gegen die zunehmende Unruhe. Aber das Gelächter des Schwarzen griff verheerend um sich. Unrat sah ganze Reihen von aufgerissenen Mündern, schwarz, mit ein paar gelben Hauern aus Lücken hervor, oder mit Halbmonden weißen Beins von einem Ohr zum andern; mit kranzförmigen Schifferbärten unter dem Kinn, oder hinaufgebundenen Borsten auf der Oberlippe. Unrat erkannte den Handlungslehrling, seinen ehemaligen Sekundaner, der ihm gestern am Rande der steilen „Grube“ ins Gesicht gefeixt hatte, und der nun die Kiefer aufriß so weit er konnte, zu Ehren der [ 120 ]Künstlerin Fröhlich. Und Unrat fühlte, wie ihm schwindelnd seine Wut zu Kopf schoß, seine von Angst durchjagte Tyrannenwut. Die Künstlerin Fröhlich war seine eigene Angelegenheit! Er hatte sie genehmigt, folgte aus den Kulissen ihren Leistungen, war mit ihr verknüpft und führte sie gewissermaßen selber vor! Man vergriff sich an ihm selbst, wenn man sich unterstand, sie nicht gelten zu lassen! Er hielt sich am Pfosten, sonst meinte er hinausstürzen zu müssen, um mittels Drohungen, Handgriffen und Strafen die empörte Schar der entlaufenen Schüler zu Gehorsam zurückzuzwingen.

Allmählich hatte er fünf, sechs von ihnen herausgefunden. Der Saal war durchspickt mit den Widerspenstigen aus alten Jahrgängen! Der dicke Kiepert und die dicke Guste gingen umher, tranken aus den Gläsern, machten sich volkstümlich. Unrat verachtete sie, sie stiegen in die Gosse. Auf hehrer Höhe stand in ihrem gründseidenen Kleid, mit ihrem verbogenen Diadem, die Künstlerin Fröhlich; aber man wollte sie nicht, man rief:

„Dor heft wi nu nooch von!“

Und Unrat konnte das nicht ändern! Es war schrecklich! Er konnte die Schüler ins Kabuff sperren, sie über nicht vorhandene Gegenstände Aufsätze verfassen lassen, ihre Handlungen seinem Dienst unterwerfen, ihre Gesinnungen drillen, und wenn einer etwas zu denken wagte, ihn anheischen: „Sie sollen nicht denken!“ Aber er konnte sie nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön [ 121 ]war. Hier war vielleicht die letzte Zuflucht ihrer Widersetzlichkeit. Unrats despotischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze menschlicher Beugungsfähigkeit … Er ertrug es kaum. Er schnappte nach Luft, sah sich um nach einem Ausweg aus seiner Ohnmacht, wand sich unter der Begierde, so einen Schädel einmal aufzuschlagen und den Schönheitssinn darin mit krummen Fingern zurechtzurücken.

Daß die Künstlerin Fröhlich so zuversichtlich und heiter bleiben und den Schreiern und Zischern noch Handküßchen zuwerfen mochte! Sie war eigentümlich groß in der Niederlage … Nun wendete sie sich halb um, vom Publikum weg, und sagte etwas zum Klavier hinunter. Und jetzt geschah es allerdings, daß ihre wohlaufgelegte, dienstfertige Miene ganz unvorbereitet in eine bittere und böse hinüberglitt, mit einem kleinen Ruck, wie beim Kinematographen. Es schien Unrat, daß sie die Unterredung mit dem Klavier nach Möglichkeit in die Länge ziehe, sich tunlichst weit wegwende. Noch weiter ging es nicht; der Fettfleck auf ihrer Rückseite wäre zur Geltung gekommen … Auf einmal schnellte sie ganz munter wieder in die Höhe, raffte ihr grünseidenes Kleid, schwenkte den orangefarbenen Unterrock hoch auf von den Füßen und brach in herzhaftes Trällern aus:

„Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldisch bien.“

Ihr guter Mut ward belohnt, man klatschte, verlangte das Lied von vorn. Als sie türenklappend zurück war in der Garderobe, fragte sie mit kurzem Atem: [ 122 ]


„Na, was sagen Sie nu? Fein raus, was?“

Der Schaden war gut gemacht, alle Welt war befriedigt; — nur ganz hinten im Saal, an der Wand neben dem Ausgang lehnte Lohmann, senkte bleich und fern den Blick auf seine verschränkten Arme und bedachte, daß seine Verse, seine unter dem Lachen von Gemeinen in die dunklen Straßen entflohenen Verse nun zitternd auf nächtlichen Luftwellen unterwegs seien zum Fenster eines Schlafzimmers, daß sie ganz schwach dagegenpochen würden, und daß drinnen niemand es hören würde…

Die dicke Guste kam mit Kiepert in die Garderobe. Die Künstlerin Fröhlich legte den Kopf in den Nacken und sagte beleidigt:

„Reden Sie mir noch mal zu, ich soll den Stuß singen von dem dummen Jungen!“

Unrat hörte es, dachte sich aber nichts dabei.

„Kindchen,“ erklärte die Frau, „auf die Leute ist eben kein Verlaß, das weiß man doch. Wenn da nich der Neger gewesen wär’, hätten sie geweint, statts daß sie nu gelacht haben.“

„Natürlich pfeif’ ich drauf,“ sagte die Künstlerin Fröhlich. „Wenn der Professor uns doch natürlich was zu trinken gibt. Was gibt er uns woll zu trinken?“

Und sie legte, wie gestern, zwei ganz leichte Finger unter sein Kinn.

„Wein?“ riet Unrat.

„Gut!“ sagte sie mit Anerkennung. „Aber was für einen?“

Unrat war unbewandert in der Weinkarte. Er [ 123 ]suchte mit den Augen nach Hilfe, wie ein steckengebliebener Schüler. Kiepert und seine Frau sahen ihn gespannt an.

„Mit S fängt es an,“ sagte aufmunternd die Künstlerin Fröhlich.

„Schâteau —“ meinte Unrat und schwitzte. Er war nicht Neuphilologe und brauchte nicht zu wissen, wie so ein Kellnerausdruck buchstabiert ward. Er wiederholte:

„Schâteau —“

„I wo,“ reimte sie … „Nach S kommt e.“

Unrat fand nicht weiter.

„Und denn k … Nee, Sie kommen aber auch auf nischt. Das is wirklich auffallend, daß er auf gar nichts kommt.“

Unrats Miene leuchtete auf einmal von naivem Glück. Er hatte es heraus.

„Sekt!“

„Na Gottlob!“ sagte die Künstlerin Fröhlich. Auch Guste und Kiepert erklärten die Lösung für richtig. Der Artist ging und machte die Bestellung. Wie er durch den Saal zurückkehrte, trug ihm der Wirt eigenhändig einen großen Kübel voran, woraus zwei Hälse starrten. Kiepert, in Trikot, blies die Backen auf, indes ringsumher Ahhh! und Hohoho! gemacht ward.

Nun ward es heiter in der Künstlergarderobe. Unrat dachte bei jedem Glas, das eingeschenkt ward: dies sei sein Wein, in diesen habe Lohmann nichts dreinzureden. Und plötzlich sagte auch die Künstlerin Fröhlich: [ 124 ]


„Sekt haben Ihre dummen Jungen hier noch nie geschmissen.“

Ihre Augen kitzelten heftiger:

„Ich wer’ sie auch nich drum angehn.“

Da Unrats Ausdruck harmlos blieb, seufzte sie. Kiepert erhob sein Glas.

„Herr Professor! Denen, die wir lieben!“

Und er schmunzelte von Unrat zur Künstlerin Fröhlich. Sie murmelte verdrießlich:

„Kuchen! Er kommt ja auf nichts.“

Die dicke Frau mußte sich für ihre nächste Nummer umkleiden; denn dem Gesang folgte nun wieder die Gymnastik. Sie bemerkte:

„Das kriegt Herr Professor nu doch nicht vorgeführt, wie ich in den Trikot kriech’. Nee, soweit geht die Freundschaft nicht.“

Sie stellte drei Stühle übereinander, verhängte die Lehnen mit Röcken und begab sich dahinter. In der Höhe genügte die Wand, aber ihre Breite ward überschritten von Gustes Körper. Die andern ertappten jeden Augenblick ein Stück von ihr, das hervorquoll, und erhoben Geschrei. Die Künstlerin Fröhlich lachte, die Arme über den ganzen Tisch hingeworfen, und riß Unrat soweit mit fort zur Ausgelassenheit, daß er mehrmals mit gestrecktem Hals in Gustes Versteck schielte. Sie machte Huch! und Kiek! Unrat zuckte zurück und dann unternahm er den schüchternen Spaß von neuem.

Aber die Künstlerin Fröhlich richtete sich mühsam auf. Sie hielt die Luft an, um sagen zu können: [ 125 ]


„Mit mir würd’ er das nich machen, da nehm’ ich Gift drauf.“

Dann pruschte sie aus.

Der Saal schrie nach Kunst, das Klavier war unfähig, ihn länger im Zaum zu halten. Die beiden dicken Leute mußten hinaus.

Mit Unrat allein geblieben, sammelte sich die Künstlerin Fröhlich. Er war auf einmal ganz befangen. Eine Weile war es still bei ihnen, und draußen sang es. Sie wehrte ab:

„Schon wieder das dämliche Flottenlied auf der Reckstange. Das verekel’ ich ihnen noch mal!… Aber Sie, Sie haben ja überhaupt noch gar nicht die Augen aufgemacht, was hier anders geworden ist.“

„Hier im Ka —? Hier?“ stotterte Unrat.

„Lassen Sie man, Sie kommen auf nichts … Hat da am Spiegel gestern vielleicht nich was gesteckt? Rechts was un links was?“

„Ach ja — freilich wohl … Zwei Blumensträuße?“

„Und Sie undankbarer Mensch sehn das gar nich, wenn ich Ihnen zu Ehren das Grünzeug in’n Ofen steck’.“

Sie schmollte, von unten herauf. Unrat lugte nach dem Ofen und errötete vor Befriedigung; denn die Künstlerin Fröhlich hatte Lohmanns Sträuße verbrannt. Plötzlich geriet er in heftige Unruhe; der Gedanke war in ihm entsprungen, Lohmanns Sträuße durch zwei andere zu ersetzen, die er selbst der Künstlerin Fröhlich brachte!… Er stellte fest, daß die rote [ 126 ]Gardine leer von Gesichtern sei. Und aufgeregt vom Drang, sich mit Lohmann zu messen:

„Mein liebes — nun doch immerhin — Fräulein, Sie haben gewiß gestern abend noch mit den jungen Leuten verkehrt?“

„Warum sind Sie auch so früh weggegangen? Was soll ich denn machen, wenn die andern reingetrippelt kommen … Aber ich hab’ ihnen mal die Wahrheit gesagt, besonders dem einen…“

„Nun, das ist brav … Und am heutigen Abend sind Sie, bei Ihrer Ankunft hier im Gasthause, gewiß draußen — immer mal wieder — den drei Schülern begegnet?“

„Wie mich das wohl glücklich macht.“

„Liebes Fräulein, falls Sie der Blumensträuße und des Sektes nicht entraten mögen, sollen Sie sie von mir bekommen. Es ist nicht zulässig, daß Sie dieser Dinge durch Schüler teilhaftig werden.“

Und wolkig gerötet, belebt, alle Gaben rätselhaft geschärft, erkannte Unrat ganz unvermittelt, daß mit dem „Stuß von dem dummen Jungen“, den die Künstlerin Fröhlich nicht noch einmal singen wollte, ihr Lied vom runden Mond gemeint sei, und daß dieses Lied eine Leistung Lohmanns sei! Er äußerte:

„Nicht nur das Lied vom runden Mond sollen Sie nicht wieder singen. Sie sollen gar keine Lieder des Schülers Lohmann mehr singen!“

„Und wenn ich derselben nicht entraten mag,“ fragte sie, immer lächelnd von unten, „wollen denn Sie mir welche machen?“ [ 127 ]


Hierauf war Unrat nicht gefaßt. Gleichwohl versicherte er:

„Ich werde sehen, was sich tun läßt.“

„Ja, sehn Sie mal zu. Und auch sonst — es läßt sich so manches tun. Bloß drauf kommen muß man.“

Und sie führte ihm ihr Gesicht zu mit gespitztem Mund.

Aber Unrat kam nicht drauf. Er sah sie hilflos und mit unbestimmtem Mißtrauen an. Sie erkundigte sich:

„Wozu sind Sie denn eigentlich hier?“

„Die Schüler dürfen nicht —“ begann er.

„Na, is gut ...“ Und sie nestelte an sich. „Ich muß mir nu was Kurzes anziehn. Sie können sich mal nützlich machen.“

Unrat tat es. Die dicken Leute kehrten durstig von ihren Triumphen zurück. Nur noch eine der Flaschen enthielt ein halbes Spitzglas. Kiepert erklärte sich bereit, neuen Stoff herbeizuschaffen. Unrat bat ihn darum. Die Künstlerin Fröhlich bekam rasch noch eingeschenkt, dann mußte sie singen. Sie bedeckte sich mit Ruhm. Der Sekt ward süßer, Unrat immer glücklicher. Zu seiner nächsten Nummer schritt der Artist auf den Händen hinaus und erwarb ungemessenen Beifall. Er benutzte diese Art sich fortzubewegen, von nun ab jedesmal. Das Temperament der Künstlerin Fröhlich steigerte sich bei jedem neuen Auftreten und ward immer stürmischer anerkannt. Unrat konnte sich nicht mehr denken, daß er einmal vom Stuhl werde aufstehen müssen. Die letzten Gäste [ 128 ]gingen schon. Die Künstlerin Fröhlich sagte noch, strahlend von Lebenslust:

„So leben wir für Alltags, Professorchen. Sonntags machen wir es noch viel schneidiger.“

Und gleich darauf brach sie in Schluchzen aus. Unrat sah erstaunt und durch einen Schleier, wie sie die Nase zwischen ihre beiden, auf dem Tisch liegenden Hände drückte, und wie ihr verbogenes Diadem auf und nieder flog.

„Das is ja man die glänzende Außenseite,“ brachte sie hervor. „Drinnen gibt’s nichts als graues Elend ...“

Sie jammerte noch weiter. Unrat suchte peinlich nach etwas, das er ihr sagen könne. Indes kam Kiepert von draußen, hob Unrat vom Stuhl und erklärte, ihn hinausgeleiten zu wollen. Unter der Tür hatte Unrat etwas gefunden. Er wendete sich, und seine Hand tastete durch die Luft, mit Anstrengung zurück nach der Künstlerin Fröhlich, die schon schlief, und versprach ihr:

„Ich werde versuchen, Sie durchzubringen.“

Dies konnte ein Lehrer vor der Versetzung zu einem Schüler sagen, dem er wohlwollte, oder er konnte es über ihn denken. Aber Unrat hatte es noch zu keinem gesagt und von keinem gedacht.